Pressekonferenz von Bundeskanzler Karl Nehammer und Außenminister Schallenberg zur Ukraine
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➡️ Karl Nehammer als erneuter Bundeskanzler? - Positionen des ÖVP-Vorsitzenden

Am 29. September wählt Österreich einen neuen Nationalrat. Aktuell führt Karl Nehammer noch die Republik als Bundeskanzler an. Und wenn es nach dem ÖVP-Obmann geht, so würde er das auch in der nächsten Legislaturperiode tun. 

Doch aktuell verliert die ÖVP ihre Vormachtstellung gegenüber der FPÖ. Die rechte Partei unter der Führung von Herbert Kickl profitiert von den Krisen der letzten Jahre, indem sie Ängste vor Migration und Globalisierung schürt, scheinbar einfache Lösungen für komplexe Probleme bietet und mit populistischen Parolen polarisiert. Doch die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung ist hoch. Nehammer versucht sich von Kickl abzugrenzen, nennt ihn ein rechtsextremes "Sicherheitsrisiko". Doch wie möchte Nehammer stattdessen regieren? 

Bessere Welt Info befasst sich kritisch mit Karl Nehammer. Dafür schauen wir auf seinen Werdegang und seine politischen Positionen anlässlich der anstehenden Wahlen. Daneben beleuchten wir auch sein bisheriges politisches Handeln und verorten seine Chancen als ÖVP-Spitzenkandidat.

Wer ist Karl Nehammer?

Nehammer wurde 1972 in Wien geboren und begann seine Karriere im Militärdienst. Er diente als Berufssoldat und studierte später Politikwissenschaften. Vor seinem Eintritt in die Spitzenpolitik arbeitete er als Kommunikationstrainer. 

Sein Aufstieg innerhalb der ÖVP war relativ schnell: Er war zuerst in der Parteiorganisation tätig, bevor er 2017 zum Nationalratsabgeordneten und ÖVP-Vize-Klubobmann in Wien gewählt wurde. In dieser Rolle spezialisierte er sich vor allem auf Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

2019 wurde er zum Generalsekretär der ÖVP ernannt und war maßgeblich an der Wahlkampagne beteiligt, die die Partei unter der Führung von Sebastian Kurz erneut an die Spitze brachte. Allerdings hat die ÖVP unter seiner Führung die gesetzliche Wahlkampfkosten überschritten und sich so unerlaubt Wahlvorteile verschafft. Der Falter veröffentlichte das Budget, die ÖVP klagte dagegen – und verlor. 

Im Jänner 2020 wurde Nehammer zum Innenminister Österreichs ernannt, eine Position, in der er sich insbesondere mit Migration und Sicherheit befasste. Nach jahrelanger ÖVP-Führung war der österreichische Verfassungsschutz in keinem guten Zustand. Mitarbeiter wurden für das Schreiben von ÖVP-Wahlprogrammen herangezogen oder halfen dem gesuchten Wirecard-Chef und mutmaßlichen Russland-Agenten Jan Marsalek zur Flucht. Eine weitere Mitarbeiterin wurde wegen Ermittlungen zu Rechtsextremismus aus der Behörde gemobbt. Unter Nehammer ändert sich kaum etwas im skandalbehafteten Verfassungsschutz. 

Auch fällt in diese Zeit der Terroranschlag in Wien 2022, bei dem vier Menschen getötet wurden. Nehammer geriet danach in die Kritik, denn der Terrorist war als IS-Anhänger bekannt, wurde allerdings nicht beobachtet. Selbst als die slowakischen Behörden einen umfassenden Bericht im Zuge eines versuchten Munitionskaufes an die österreichischen Behörden weiterleiteten, erfolgte keine Reaktion. 

 

Sebastian Kurz und Karl Nehammer bei einer Veranstaltung
Wiki | BKA - CC BY 2.0

Ein Untersuchungsbericht nach dem Attentat attestierte starke Mängel bei der Arbeit des Verfassungsschutzes. Mehrere Razzien und Verhaftungen im Anschluss wurden von Nehammer als großer Schlag gegen den radikalen Islam verkauft; er ließ sich medienwirksam mit den Beamten fotografieren – im Nachgang wurden die Hausdurchsuchungen als rechtswidrig eingestuft; die Verhaftungen führten ins Leere. 

Die volle Härte des Gesetzes zeigte Nehammer dann bei der Abschiebung einer jungen georgischen Schülerin und ihrer Familie. Als Mitschüler vor der Abschiebeunterkunft friedlich demonstrierten, wurden sie gewaltsam von Polizisten von der Straße geprügelt. Nehammer verteidigte das brutale Vorgehen später in der Presse. 

Auch die Corona-Demos fielen unter seine Zuständigkeit. Zunächst wurden die Demonstrationen verboten, später dann doch laufen gelassen, ohne einen Versammlungsleiter zu benennen. Teil der Demos waren auch immer wieder Rechtsextreme, die Journalisten und Polizei angriffen – auf diese Übergriffe reagierte man verhalten. Für die genannten Vorfälle suchte Nehammer in der Regel die Schuld in äußeren Faktoren wie dem Justizressort, Kickl oder dem Gesundheitsministerium – anstatt selbst Verantwortung zu übernehmen. 

Auch beim Ibiza-Skandal gab es Vorwürfe gegen Nehammer und seine Behörde, die Aufklärung zu behindern. So hatte Nehammer nach dem Fund des Videos, nicht die Justiz-Ministerin informiert und das Material dem eindeutig zuständigen WKStA vorenthalten. 

Seiner Karriere tat dies keinen Abbruch, im Gegenteil: Nachdem Sebastian Kurz im Zuge mehrerer Skandale zurückgetreten war und auch sein Nachfolger Alexander Schallenberg das Amt des Bundeskanzlers niedergelegt hatte, wurde Nehammer im Dezember 2021 zum neuen Bundeskanzler Österreichs ernannt. Von seinem Vorgänger und dessen Korruptionsverwicklungen hat sich Nehammer bislang nicht distanziert. Weitere ÖVP-Politiker wie August Wöginger oder Wolfgang Sobotka sind trotz Vorwürfen weiterhin in ihren Ämtern. Auch sonst blieb diese Zeit nicht ohne Vorfälle.

So wollte die FPÖ wissen, ob Zuwendungen aus dem Kanzleramt an ÖVP-Vereine geflossen seien. Einer Befragung im Parlament entzog sich Nehammer und schickte seine Staatssekretärin – die konnte Überweisungen an ÖVP-Vereine nicht ausschließen. So erhielt beispielsweise der ÖVP-Seniorenbund Oberösterreich 2 Millionen Euro Corona-Hilfen.

In seiner Rede zur "Zukunft der Nation" 2023 verharmloste Nehammer den Klimawandel und zweifelte wissenschaftliche Belege für eine „Untergangsapokalypse“ an. Stattdessen sprach er sich für einen Fortbestand von Verbrennungsmotoren aus und setzte bislang in seiner Amtszeit das beschlossene Klimaschutzgesetz nicht um. 

Die zu Beginn 2024 versprochenen 100 Kassenarztstellen – im Juni wurde bekannt, dass dafür keine Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Auch ein Video aus dem September 2023 sorgte für negative Schlagzeilen. Darin äußerte er Unverständnis über Kinderarmut, Sozialpartnerschaften und prekäre Lebensverhältnisse von Frauen in Teilzeit – man könne ja mehr arbeiten und günstiges Essen gäbe es bei McDonalds. 

 

Bundeskanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler auf Betriebsbesuch bei TTTech
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Wofür steht Karl Nehammer?

Migration

Nehammer setzt stark auf das Thema Sicherheit und Migration, wobei er eine sehr restriktive Haltung einnimmt. Er fordert eine klare Begrenzung der Zuwanderung und die konsequente Durchsetzung von Abschiebungen bei abgelehnten Asylbewerbern. Hier betont Nehammer die Notwendigkeit, illegale Migration zu verhindern und legale Zuwanderung stärker zu kontrollieren. Nehammer unterstützt Maßnahmen zur Sicherung der EU-Außengrenzen und fordert mehr Mittel für die Grenzschutzagentur Frontex. Ziel ist es, Asylverfahren komplett ins Ausland zu verlagern. Auch im Inland fährt man einen harten Kurs: Geflüchtete sollen nur mehr Sach- anstatt Geldleistungen erhalten, er fordert verpflichtende Werte-Kurse und die ohnehin strenge Vergabe der Staatbürgerschaft sollen weiter verschärft werden.

Wirtschaft 

Ein zentraler Punkt von Nehammers Wahlprogramm ist die Förderung der österreichischen Wirtschaft und die Unterstützung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Es soll einen Steuerbonus von 1.000 Euro pro Jahr für Vollzeitarbeiter und weniger Bürokratie für Unternehmen geben. Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, plant Nehammer eine Kombination aus besseren Ausbildungsangeboten, der Förderung von Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte sowie Anreizen für ältere Arbeitnehmer, länger im Arbeitsprozess zu bleiben. Zudem werden steuerfreie Überstunden und eine Senkung der Lohn- und Einkommensteuer ins Aussicht gestellt. 

Soziales

Familienförderung ist traditionell ein wichtiger Bestandteil der ÖVP-Politik, und auch in Nehammers Konzept spielen Familien eine zentrale Rolle. Nehammer plant, die Familienbeihilfe sowie den Familienbonus zu erhöhen, um Eltern finanziell zu entlasten. Ziel ist es, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Ausbau der Kinderbetreuungsplätze, um es vor allem Müttern zu ermöglichen, schneller wieder in den Beruf einzusteigen. Dies soll auch den Fachkräftemangel lindern. Nehammer fordert aber auch Verschärfungen der Sozialleistungen. So soll das Arbeitslosengeld zeitlich sinken. Hormontherapien für Trans-Kindern und Jugendlichen möchte Nehammer in Zukunft verbieten. 

Klimaschutz und Energie

Auch im Bereich des Klimaschutzes und der Energiepolitik will Nehammer Schwerpunkte setzen, allerdings in einer wirtschaftsfreundlichen Weise. Er betont dabei, dass die Energiewende technologieoffen gestaltet werden muss und Wirtschaft und Klimaschutz Hand in Hand gehen müssen. Vor dem Hintergrund der Energiekrise ist die Unabhängigkeit von ausländischen Energiequellen ein zentrales Thema. Nehammer fordert Investitionen in heimische Energiequellen und den Ausbau von Speichermöglichkeiten. 20 Milliarden Euro sollen für den Straßenbau und Investitionen in „grüne Verbrennungsmotoren“ bereitgestellt werden. Man möchte weiterhin das "Autoland Österreich" bleiben. 

 

Bei einem Treffen in Kiew diskutierten Wolodymyr Selenskyj und der österreichische Bundeskanzler über die Unterstützung der Ukraine und die Erhöhung des Sanktionsdrucks gegen Russland.
Flickr | President Of Ukraine - gemeinfrei

Sicherheit

Nehammer, der als ehemaliger Innenminister stark im Bereich der inneren Sicherheit verankert ist, macht die Bekämpfung von Kriminalität zu einem der zentralen Themen. Er fordert strengere Gesetze und eine bessere Ausstattung von Polizei und Justiz im Kampf gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus. 32.000 mobile Polizeiinspektionen sollen dafür entstehen. Da Cyberkriminalität eine zunehmende Bedrohung darstellt, will Nehammer den Bereich Cyberabwehr ausbauen und Investitionen in die IT-Sicherheit vorantreiben.

Nehammer hält an der Position fest, dass Österreich aufgrund seiner Neutralität keine Waffen an die Ukraine liefern wird. Diese Haltung nennt er als ein zentraler Punkt in der Außenpolitik Österreichs, insbesondere im Hinblick auf den anhaltenden Krieg in der Ukraine. Nehammer hat jedoch betont, dass humanitäre Hilfe, wie die Unterstützung bei der Minenräumung, ein wichtiger Beitrag zur Bewältigung des Konflikts sein kann. Die Wehrfähigkeit des Bundesheeres möchte Nehammer allerdings umfassend erhöhen: mehr Personal, mehr finanzielle Anreize und neue Verbände für Cyberabwehr und Luftverteidigung. 

Bildung und Forschung

Nehammer plädiert für mehr Leistungsprinzip in Schulen und Universitäten und eine Fokussierung auf Schulnoten. Gendersprache soll eingeschränkt werden. Daneben legt er einen Fokus auf die Duale Ausbildung und will die Lehre attraktiver gestalten. Besonders in handwerklichen Berufen soll es mehr Anreize für Jugendliche geben, diesen Karriereweg zu wählen. Um Österreich als Innovationsstandort zu stärken, fordert Nehammer höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung, insbesondere in zukunftsorientierten Bereichen wie der Digitalisierung und der grünen Technologie. Der öffentliche Rundfunk um den ORF soll reformiert und verkleinert werden. 

Pflege und Gesundheit

Im Gesundheitssystem sieht Nehammer den steigenden Pflegebedarf als eine der großen Herausforderungen und fordert mehr finanzielle Mittel für den Pflegesektor sowie eine bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte. Im Gesundheitssystem setzt Nehammer auf 800 neue Kassenarztstellen und eine Berufspflicht für in Österreich ausgebildete Mediziner. 

 

Karl Nehammer auf einer öffentlichen Veranstaltung am Pult
Flickr | EPP - CC BY-NC-ND 2.0

Kann Nehammer Bundeskanzler?

Nehammer wurde formal nie zum Bundeskanzler gewählt. Er regierte mit dem Wahlergebnis und den 37 %, die Sebastian Kurz noch als Spitzenkandidat 2019 erzielte. Doch auch diese Zahlen wurden teilweise auch durch illegales Handeln erlangt. Aktuell dürften die ÖVP und Nehammer auf weniger gute Zahlen kommen. Bei der letzten Sonntagsumfrage stand man mit 24 % hinter der FPÖ und vor der SPÖ.

Andererseits befindet er sich in einer durchaus vorteilhaften Position. Die SPÖ unter Babler hat sich bereits konsequent und deutlich von einer Koalition mit der FPÖ distanziert. Auch inhaltlich würde diese Paarung wohl kaum funktionieren. Die ÖVP mit ihrem mitte-rechts Wahlprogramm wäre wohl für beide Parteien ein möglicher Koalitionspartner. Zwar hat sich Nehammer immer stark vom FPÖ-Obmann Kickl distanziert und dessen rechtsextremes Gedankengut klar kritisiert. Aber die schwarz-blauen Koalitionen in Salzburg, Ober- und Niederösterreich sprechen dafür, dass die beiden Parteien sehr wohl inhaltlich zusammenfinden können. 

Allerdings müsste Nehammer in dieser Konstellation wohl seinen Bundeskanzlerposten räumen und Platz machen für einen "Volkskanzler" Kickl. Ob die SPÖ andererseits mit ihrem sozial-progressiven Wahlprogramm, das eine Reichensteuer, kürzere Arbeitswochen oder einen Mindestlohn beinhaltet, mit der ÖVP zusammenkommt, bleibt fraglich. Aktuell bräuchte man aber noch die Grünen oder die NEOS für diese Koalition.  

Am Ende könnte Nehammer über die Zukunft der Republik entscheiden. Ebnet er den Weg für eine stramm rechte Regierung, die unter Kickl möglicherweise autoritäre Züge annehmen könnte? Oder entscheidet er sich für eine sozialdemokratische Variante und setzt ein Zeichen gegen den sonst neoliberalen und rechtsorientierten Kurs der ÖVP? Denn in den vergangenen Jahren hat die ÖVP vor allem Politik für die Besserverdienenden und Unternehmen gemacht. 

Gesellschaftliche Minderheiten profitierten kaum von der ÖVP-Politik – im Gegenteil. Dass die soziale Ungleichheit in Österreich zunimmt, ist ein Ergebnis der konservativen Politik der letzten Jahre. Davon profitiert vor allem die FPÖ, die gesellschaftliche Zerwürfnisse gezielt aufgreift und Ängste schürt. Nehammer könnte jetzt ein Zeichen setzen – für Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Mit Blick auf seine bisherige Karriere könnte am Ende aber der Erhalt seiner Machtposition den entscheidenden Impuls geben. 

Autor: Maximilian Stark 12.09.24, lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0(link is external)

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